Durchbruch in der ME/CFS-Diagnostik? Wissenschaftler identifizieren messbare Biomarker

mecfs biomarker

Eine spannende Studie der Universität Oxford könnte die Diagnostik von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) deutlich verbessern – und damit auch neue Perspektiven für Long COVID-Patienten eröffnen. Erstmals haben Forscher 200 spezielle Faltungs-Muster im Blut identifiziert, die eine objektive Diagnose ermöglichen könnten.

Was wurde entdeckt?

Die Oxford-Forscher untersuchten Blutproben von 47 Menschen mit schwerem ME/CFS sowie 61 gesunden Kontrollpersonen im gleichen Alter. Dabei stießen sie auf ein eindeutiges Muster: 200 spezielle Marker, die bei ME/CFS-Patienten immer gleich waren, bei Gesunden jedoch nicht vorkamen.

Das Bemerkenswerte: Ein Computerprogramm konnte allein aufgrund dieser Blut-Marker erkennen, ob das Blut von jemandem mit ME/CFS stammte – und das mit einer beeindruckenden Genauigkeit:

  • 92 Prozent richtig erkannt (Sensitivität bei ME/CFS-Patienten)
  • 98 Prozent richtig ausgeschlossen (Spezifität bei Gesunden)
  • Gesamtgenauigkeit: 96 Prozent

 

Was bedeuten diese Marker?

Die entdeckten Marker hängen mit bestimmten Genen und Signalwegen zusammen, die zentrale Funktionen im Immunsystem steuern:

IL-2 und IL-10 (Interleukine): Diese Botenstoffe regulieren, wie aktiv das Immunsystem ist. Bei ME/CFS-Patienten sind sie dauerhaft fehlreguliert.

TNF-α: Ein Entzündungsstoff, der bei den Betroffenen chronisch erhöht sein kann.

JAK/STAT-Signalweg: Diese molekulare Schaltkette steuert Immunreaktionen. Bei ME/CFS scheint sie dauerhaft aktiviert oder gestört zu sein.

Toll-like-Rezeptoren (TLR): Diese Sensoren erkennen normalerweise Viren und Bakterien. Bei ME/CFS reagieren sie offenbar ständig, als wäre eine Bedrohung da.

Die Forscher fanden heraus, dass diese Signalwege bei ME/CFS-Patienten ständig aktiv oder falsch reguliert sind. Das erklärt auch die Dauerschleife aus Entzündung, Erschöpfung und Reizüberempfindlichkeit, unter der Betroffene leiden.

Medikamentöse Ansätze: Ein Hoffnungsschimmer

Besonders spannend: Die Forscher verglichen diese Signalwege mit Medikamenten, die ähnliche Prozesse beeinflussen. Dabei fiel auf, dass Rituximab (ein Krebs- und Autoimmunmedikament) und Copaxone (aus der MS-Therapie) genau auf die gleichen molekularen Pfade wirken.

Die Schlussfolgerung: Manche ME/CFS-Patienten könnten auf solche Immunmedikamente ansprechen. Das ist noch keine Behandlungsempfehlung, aber ein wichtiger Hinweis für zukünftige Therapieansätze.

Was bedeutet das konkret für Betroffene?

Die Studie liefert mehrere wichtige Erkenntnisse:

Es gibt ein messbares Muster im Blut, das bei fast allen ME/CFS-Patienten gleich ist. Das ist ein eindeutiger Beweis: ME/CFS ist keine psychische Störung oder Einbildung, sondern eine echte biologische Veränderung.

Dieses Muster hängt nicht vom Lebensstil ab. Die Marker sind unabhängig von Fitness, Ernährung oder anderen äußeren Faktoren. Sie spiegeln echte biologische Veränderungen wider.

Dies könnte der erste objektive Labortest für ME/CFS werden. Bisher beruhte die Diagnose ausschließlich auf Symptomen und dem Ausschluss anderer Erkrankungen. Ein Bluttest würde das grundlegend ändern.

Der Test hilft, Untergruppen zu identifizieren – also herauszufinden, wer auf welche Behandlung reagieren könnte. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung personalisierte Medizin.

Aber: Noch kein Routine-Test verfügbar

So vielversprechend die Ergebnisse auch sind, es gibt wichtige Einschränkungen:

Der Test ist im Labor fertig, aber noch nicht offiziell zugelassen (außer für Forschung). Nur das Labor in Oxford, England, kann ihn derzeit durchführen. Es müssen noch größere Studien folgen, um sicherzugehen, dass der Test überall gleich gut funktioniert.

Das Ziel der Forscher ist klar: Sie wollten herausfinden, ob man ME/CFS endlich im Blut nachweisen kann – also nicht nur über Symptome oder Ausschlussdiagnosen, sondern mit einem echten Test, wie bei anderen Krankheiten auch.

Die Methodik: Chromosomen-Faltung statt Gen-Fehler

Interessant ist auch, wie die Forscher vorgegangen sind. Sie haben Blut genommen von 47 Menschen mit schwerem ME/CFS (die meisten bettlägerig) und 61 gesunden Menschen im gleichen Alter.

Dann haben sie im Labor das Erbgut (DNA) aus dem Blut untersucht – aber nicht nach Gen-Fehlern gesucht, sondern nach der Art, wie die DNA „zusammengefaltet“ ist. Das nennt man 3D-Genomic oder Chromosomen-Konformation.

Was bedeutet das konkret?

Stell dir DNA wie ein riesiges Wollknäuel vor. Nicht die einzelnen Fäden sind das Problem, sondern wie sie zusammengerollt sind. Wenn sich bestimmte Stellen falsch „berühren“, werden Gene zu stark oder zu schwach aktiviert. Das kann Entzündungen, Energieprobleme oder Fehlsteuerungen des Immunsystems auslösen – genau das, was bei ME/CFS passiert.

Relevanz für Long COVID

Diese Forschung ist auch für Long COVID-Betroffene hochrelevant. Viele Long COVID-Symptome überschneiden sich mit ME/CFS, und einige Experten vermuten, dass ähnliche immunologische Fehlregulationen eine Rolle spielen könnten.

Ein validierter Bluttest könnte helfen:

  • Long COVID objektiv zu diagnostizieren
  • Zwischen verschiedenen Post-Infektions-Syndromen zu unterscheiden
  • Gezielte Therapieansätze zu entwickeln
  • Die Krankheit gesellschaftlich anzuerkennen

Fazit: Ein wichtiger Schritt nach vorn

Die Oxford-Studie ist ein Meilenstein in der ME/CFS-Forschung. Sie beweist, dass ME/CFS eine messbare, biologische Erkrankung ist – keine psychosomatische Störung. Der entwickelte Test könnte in Zukunft Millionen Menschen helfen, eine klare Diagnose zu bekommen und Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung zu erhalten.

Für die Long COVID-Community ist dies ebenfalls ein Hoffnungszeichen: Je besser wir Post-Infektions-Syndrome wie ME/CFS verstehen, desto besser können wir auch Long COVID diagnostizieren und behandeln.


Quelle: Hasser et al., „Development and validation of blood-based diagnostic biomarkers for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) using EpiSwitch 3-dimensional genomic regulatory immuno-genetic profiling“, Journal of Translational Medicine

Hinweis: Dieser Artikel dient der Information und ersetzt keine medizinische Beratung. Bei Verdacht auf ME/CFS oder Long COVID wenden Sie sich bitte an spezialisierte Fachärzte.